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Mit dem Fahrrad zur Jahrestagung quer durch Deutschland und angrenzende Länder: Chronik eines besonderen Spleens

Wenn vom 30. Mai bis 03. Juni 2023 an der TU Berlin die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für angewandte Optik (DGaO) stattfindet, ist das für Prof. Stefan Sinzinger, Vizepräsident für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs und Fachgebietsleiter Technische Optik an der TU Ilmenau, ein besonderes Ereignis – nicht nur aus fachlicher Sicht: Seit 2005 hat der passionierte Radfahrer den Weg zur Tagung bis auf eine Ausnahme jedes Jahr mit dem Rad zurückgelegt. 6000 km im Fahrradsattel sind so bis heute zusammengekommen. Am morgigen Pfingstsamstag geht es wieder los. Für die DGaO, deren Vorstandsvorsitzender er bis 2021 war, blickt Prof. Sinzinger auf die großen und kleinen Abenteuer und Herausforderungen der vergangenen Touren zurück.

Meike Hofmann
Unterwegs zur Jahrestagung der DGaO 2021 in Bremen: Prof. Stefan Sinzinger (2.v.l.) und seine Kolleg*innen vom Fachgebiet Technische Optik

Vor einigen Jahren, im Frühjahr 1992, entstand am Institut für Angewandte Optik der Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, vermutlich in einer mittäglichen Kaffeepause, die Idee, zu der anstehenden Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für angewandte Optik im thüringischen Friedrichroda über Pfingsten mit dem Fahrrad anzureisen. Den jungen Doktoranden, die das gemeinsam ausheckten, schien das eine geradezu ideale Gelegenheit, den Besuch der Jahrestagung mit einer sportlichen Betätigung zu verbinden. Gleichzeitig, und das war ein großer Teil der Motivation, versprach die Tour, die fehlende Kenntnis über Land und Leute, in dem nach der Wiedervereinigung noch „neuen“ Nachbarbundesland zumindest etwas zu verbessern.

Dies gelang auf der Tour denn auch auf ungeplante Weise, z.B. als wir uns am Pfingstsonntag irgendwo im Thüringer Wald mit einer gebrochenen Achse im Hinterrad auf die Suche nach Hilfe machen mussten. Die Selbstverständlichkeit, mit der uns der Fahrradreparateur, den wir irgendwie gefunden hatten, am Sonntag Abend seine Werkstatt aufsperrte und das Rad reparierte, hat uns "Wessis" schon 1992 in großes Erstaunen (und Begeisterung) versetzt. Jedenfalls hat diese „Mutter aller DGaO-Radtouren“ bleibenden Eindruck hinterlassen, der seine Wirkung mehr als zehn Jahre später neu entfalten sollte.

Im Jahre 2005, ich war inzwischen über ein paar berufliche Stationen am Fachgebiet Technische Optik der TU Ilmenau gelandet, kam mit einem Doktoranden wieder die Sprache auf Radtouren. Es stand die Jahrestagung in Wroclaw an – auf den ersten Blick viel zu weit, aber warum nicht mal angehen? Über die Tatsache, dass es diese Tour war, auf der wir, in Tschechien zum wiederholten Male eingeregnet, abgebrochen haben und in den Zug gestiegen sind, würde ich hier und heute gerne das Mäntelchen des Schweigens ausbreiten. Heute – geht mir oft durch den Kopf – würde mir das nicht mehr passieren. Trotzdem war eine Idee geboren, die wir bis heute mit einer einzigen Ausnahme durchgehalten haben, und der Beweis ist erbracht: aus Ilmenau im grünen Herzen Deutschlands kann jeder Tagungsort der DGaO über das lange Pfingstwochenende mit dem Fahrrad erreicht werden.   

Im darauffolgenden Jahr, 2006, stand die Tagung in Weingarten an. Auch diese Tour hatte etwas Besonderes: Sie ist bis heute die einzige, zu der sich alle damals aktuellen Doktorandinnen und Doktoranden angeschlossen haben. Die Durchsetzungskraft die Radtourbeteiligung als Pflichtbestandteil der Promotionsausbildung am Fachgebiet Technische Optik zu etablieren, hat mir dann doch gefehlt. Aber ich kann augenzwinkernd versichern, dass der moralische Druck in diese Richtung durchaus erheblich ist.

Wie groß die Motivation war, die mit Wroclaw, Weingarten und Heringsdorf angefangene Serie nicht abreißen zu lassen, ist an der Tour 2008 nach Esslingen, erkennbar. Am Freitag vor dem Pfingstwochenende kam die Meldung rein, dass am folgenden Mittwoch, also dem ersten Tag der Tagung, ein nicht aufschiebbares Projekttreffen in Jena stattfindet – ohne Chance meine Teilnahme zu entschuldigen. Was tun? Einen Tag später anreisen, aber was ist dann mit der Radtour? Die gewählte Lösung war denkbar einfach: Wir sind wie geplant mit dem Rad nach Esslingen angereist und ich habe den ersten Tagungstag ausfallen lassen müssen, um mit dem geliehenen Auto frühmorgens rechtzeitig nach Jena zum Projekttreffen anzureisen (nicht alles, was wir gemacht haben, war allein von ökologischem Idealismus geprägt).

Und dann kam der echte Versager: Brescia. Nach langem Überlegen war es einfach zu weit und organisatorisch zu schwierig. Dass wir es gar nicht versucht haben,, nach Brescia per Rad anzureisen, nagt schon etwas an mir. Angesichts der Tatsache, dass wir nicht zurückgeschreckt sind, mehrere Touren mit deutlich über 600 km Entfernung (Brünn, Heringsdorf, Eindhoven) anzugehen, kann man sich fragen, warum dann nicht Brescia mit rund 900km. Einige Doktoranden haben als Alternative das Pfingstwochenende 2009 mit spektakulären Gebirgsradtouren am Gardasee verbracht, da bin ich jedoch ausgeschert. 

Es ist sicher unschwer zu glauben, dass die insgesamt ca. 6000 km im Fahrradsattel auf dem Weg zur DGaO-Tagung, die über die Jahre zusammengekommen sind, mit einigen besonderen Erlebnissen einhergegangen sind. Die jeweiligen Mitfahrer*nnen können hier abendfüllend berichten. Dieser Bericht ist nicht geeignet, die zahlreichen einzigartigen Erlebnisse auch nur annähernd umfassend zu erzählen (Heimatkunde und Teambuilding in Reinkultur): Dennoch seien exemplarisch einige wenige Anekdoten berichtet.

In besonderer Weise in meinem Gedächtnis geblieben sind so manche „interessante“ Quartiere, von Jugendherbergen, Gasthöfen in Tschechien, Herbergen mit Familienanschluss und Weinprobe vom Familienweingut bis hin zur abenteuerlichen „Hütte“ im Weinberg inmitten der Weinmeile bei Bad Kösen.

"Das Wetter hat uns nicht aufgehalten"

Für so manchen Frischluftmuffel mag es schwer vorstellbar sein, aber das Wetter hat uns, mit jener einzigen Ausnahme auf dem Weg nach Wroclaw, nicht aufgehalten. Natürlich ist etwas Anpassung und gute Kleidung hier hilfreich, um nicht zu sagen notwendig. Nach Weingarten bin ich die gesamte Strecke mit Handschuhen gegen die Kälte gefahren – und habe trotzdem gefroren. Nach Karlsruhe dagegen mussten wir die Mittagspausen aufgrund der doch mächtigen Hitze deutlich ausdehnen und im Schatten „Siesta“ halten. Die Pizza Diavola ist mir seinerzeit bei der Hitze gar nicht bekommen…. Auch die Fahrt nach Esslingen war sonnenintensiv. Bei dieser Gelegenheit musste ein Mitfahrer die Erfahrung machen, dass die tagsüber intensiv aufgetragene „After-Sun“ Lotion den Sonnenbrand dann doch nicht verhindern konnte. Wie herrlich waren die Sonnenstrahlen dagegen in Leipzig auf dem Weg nach Dresden, nach einem halben Tag im strömenden Regen, als unsere Kleidung so langsam anfing wieder zu trocknen.

Der echte Feind des Radfahrers ist jedoch der Wind, insbesondere wenn er von vorne kommt. Da kommen schon manche Situationen in den Sinn, z.B. als wir uns bei heftigem Gegenwind und Erdbeerduft durch das Thüringer Becken kämpfen mussten, vermutlich auf dem Weg nach Braunschweig. Die Erfahrung bringt auch hier die Lösung: Man suche den Windschatten hinter dem breiten Kreuz eines Doktoranden, ein Rezept, das sich immer wieder bewährt. Noch besser ist es nur, wenn man mit Rückenwind dahinfliegt wie z.B. von Bamberg nach Forchheim, am Abend des ersten Tages nach Weigarten – da sind die heutigen Elektromotoren nichts dagegen.   

Stichwort Ernährung: Der Literverbrauch/100km ist auf solchen Radtouren durchaus beachtlich und übersteigt so manches Mal den Verbrauch eines SUV. Allerdings ist die zugeführte Flüssigkeit ggf. deutlich klimafreundlicher. Am Abend des zweiten Tages auf dem Weg nach Heringsdorf (Weimar-Bitterfeld) hatte ich anhand der Häufigkeit, mit der die Wasserflaschen gefüllt werden mussten, überschlagen, dass ich ca. 17 Liter „verbraucht“ hatte – na ja, war ein heißer Tag und eine ambitionierte Strecke.

Und abends darf mit dem besten Gewissen geschlemmt werden. Manchmal müssen hier auch Kompromisse eingegangen werden, wie seinerzeit in Prenzlau, als wir unbedingt Weinbergschnecken essen mussten, da sich ein Mitfahrer untertags an einer Weinbergschnecke einen Platten gefahren hatte – Rache! Das war jener Tag, an dem wir ständig Reparaturpausen hatten, da alle Mitfahrer nacheinander eine Reifenpanne durchlaufen mussten.     

Und hier noch einige Weisheiten, die man auf solchen Touren ebenfalls lernt:

  • Wenn die Cola in der Satteltasche ausläuft, ist es nicht mehr hilfreich, dass diese 100% wasserdicht ist!
  • Windräder stehen meist an den höchsten Punkten der Berge/Hügel. Ergo, eine Routenplanung, die am Fuße jedes einzelnen Windrades vorbeiführt, muss nicht ideal sein!
  • Am Wegesrand sitzende Buntspechte können gefährlich werden, wenn sie aufgeschreckt direkt in die Speichen des Vorderrades fliegen.
  • Beim Durchfahren von Wasserläufen ist besondere Vorsicht geboten, man liegt schneller drin als man denkt – ich weiß das seit der Fahrt nach Brno!   

Zum Schluss möchte ich von Herzen danken, dafür, dass so viele mitgefahren sind. Zwar hatte ich des Öfteren gedroht, dass ich auch alleine fahren würde, aber ich musste es nie umsetzen und es hätte nur den halben Spass gemacht.  Es haben sich dann doch immer Mitfahrer*nnen gefunden, ob freiwillig oder gezwungen, lassen wir dahingestellt. Trotzdem ab und an „Externe“ mitgefahren sind, ist aus der Unternehmung leider nie die „Optik-Sternfahrt“ geworden wie sie mir zwischenzeitlich mal in den Sinn gekommen ist, aber das kann ja noch werden.

Auch die logistische Unterstützung, die wir immer wieder erfahren haben, soll nicht unerwähnt bleiben. Unendlich dankbar sind wir den Kollegen, die immer wieder unser Tagungsgepäck mit zum Tagungsort transportiert haben. Das Jackett hätte die Tortur eines Transportes in der Fahrradtasche sicher nicht so gut überstanden.   

Alle haben mitgeholfen, dass wir immer gesund angekommen sind, im Wesentlichen. Das ist bei der gelegentlich auftretenden Ausschüttung von Adrenalin, Dopamin oder sonstiger Glückshormone nicht unbedingt selbstverständlich! Der heftigste daraus resultierende Unfall hat dann auch zu einem unangenehm aufgeschlagenen Arm geführt, aber zum Glück nichts Schlimmerem.

Ich danke den regelmässigen Mitfahrern, die quasi als Stammbesetzung die Kontinuität gesichert haben. Aber mindestens genauso freue ich mich immer über die „erstmaligen“ Tourenfahrer, die teilweise noch mehr als die Anderen die Zähne zusammenbeißen müssen, um die langen Touren durchzustehen. Ich hoffe, dass wir noch ein paar weitere Jahre durchhalten und schöne Touren zusammen fahren können. Und wir freuen uns über jede* Mitfahrer*in.                                  

Zur Person:

Stefan Sinzinger studierte von 1983-89 Physik an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Mit der Diplomarbeit am Institut für Angewandte Optik von Prof. Adolf Lohmann begann im Jahre 1988 seine intensivere Konzentration auf Themen der angewandten und physikalischen Optik. Während seiner Promotionszeit verbrachte er im Jahre 1991 einen 9-monatigen Forschungsaufenthalt am NEC Research Institute in Princeton, New Jersey, USA. Im Jahre 1993 promovierte er mit einer Arbeit zur dreidimensionalen Mikrointegration optischer Systeme. Von 1994 -2002 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent und Oberingenieur am Lehrgebiet Optische Nachrichtentechnik von Prof. Jürgen Jahns an der Fernuniversität Hagen. Seit 2002 ist er Fachgebietsleiter am Fachgebiet Technische Optik in der Fakultät für Maschinenbau der Technischen Universität Ilmenau. Seit 2011 betreibt er gemeinsam mit Roman Kleindienst in Nebentätigkeit die Ilmenau Optics Solutions GmbH  als Ausgründung aus dem Fachgebiet.

Mit den ersten Monaten am Institut für Angewandte Optik in Erlangen im Jahre 1988 begann für Stefan Sinzinger auch die Zeit seiner aktiven Teilnahmen an den Jahrestagungen der DGaO. Insbesondere auch als Fachgebietsleiter in Ilmenau wurde die Gesellschaft mit ihren Jahrestagungen so etwas wie die wissenschaftliche Heimat für ihn und das gesamte Fachgebiet. Im Jahre 2010/2011 war er als Tagungsgeschäftsführer für die Tagung in Ilmenau Mitglied des Vorstandes. Auf der Tagung in Hannover wurde Stefan Sinzinger zum Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für angewandte Optik gewählt. 2018 auf der DGaO-Jahrestagung wurde er wiedergewählt und war bis 2021 Vorstandsvorsitzender der DGaO. Seit 2021 ist Prof. Sinzinger Vizepräsident für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs an der TU Ilmenau.