Forschung

Inspiriert von der Natur: 20 Jahre Biomechatronik an der TU Ilmenau

Mit ihrem Ziel, Erkenntnisse aus den Lebenswissenschaften Biologie und Medizin für die Technik nutzbar zu machen, ist die Biomechatronik heute aktueller denn je. 2002 an der Fakultät für Maschinenbau als erste Professur Deutschlands in diesem Bereich gegründet, ist das Fachgebiet Biomechatronik an der TU Ilmenau bis heute der einzige universitäre Lehrstuhl, der als Brückenfach die Mechatronik mit der Biologie und der Medizin verbindet. Dabei entstehen Assistenzsysteme für Menschen und Mechatronische Systeme für Biologie oder Forstwirtschaft, aber auch bionische Produkte wie Kletterroboter oder Robotergreifer. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens blickt der Gründungsprofessor Hartmut Witte auf die Anfänge des Fachs zurück und stellt aktuelle Forschungsprojekte vor.

TU Ilmenau
Für den Bau eines Exoskeletts werden am Fachgebiet Biomechatronik der TU Ilmenau Kenntnisse aus Anatomie, Biomechanik und Physiologie mit solchen aus Orthopädie, Arbeitswissenschaft und Biorobotik zusammengeführt und weiterentwickelt.

Wie lassen sich eingeschränkte Funktionen des menschlichen Körpers mit Hilfe technischer Funktionen unterstützen? Und wie kann man nach biologischem Vorbild technische Abläufe optimieren oder technische Bewegungssysteme entwickeln? Diese Fragen trieben Dr. Hartmut Witte, diplomierter Ingenieur des Maschinenbaus und habilitierter Facharzt für Anatomie, schon in den 1990er Jahre um. Zu dieser Zeit war er als Wissenschaftler am Institut für Spezielle Zoologie und Evolutionsbiologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig und entwickelte in Zusammenarbeit mit dem Forschungszentrum Informatik in Karlsruhe die vierbeinige bio-inspirierte Laufmaschine BISAM.

Nach seiner Berufung an die TU Ilmenau nahm Prof. Witte gemeinsam mit Oberassistent Dr. rer. nat. Cornelius Schilling und Dipl.-BW. (FH) Wolfgang Kempf am 2. Mai 2002 in einer Baracke an den Ilmenauer Teichen seine wissenschaftliche Forschungsarbeit auf. Prof. Witte blickt auf die Anfänge der Biomechatronik an der TU Ilmenau zurück:

Da das Fach vollkommen neu etabliert wurde, hatten wir einerseits kein ‚wissenschaftliches Erbe‘ fortzuführen, andererseits aber auch keinerlei materielle Infrastruktur, die wir übernehmen konnten.

So wurde improvisiert, und mit zwei Projekten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) stiegen Prof. Witte und sein Team schnell in die beiden Kernbereiche des Fachs, die Technische Biologie und Bionik („Bio4Eng“) und die Assistenzsysteme („Eng4Bio“) ein. Zu diesem Zeitpunkt war Biomechatronik bereits als Spezialisierung im Hauptstudium des Diplom-Studiengangs Mechatronik vorgesehen, erinnert sich Dr. Schilling:

Sieben Studierende warteten schon seit teilweise einem Jahr energiegeladen auf den Start des Angebots, den wir dann auch unmittelbar für das bereits laufende Sommersemester realisieren konnten.

Auch das Fachgebiet wuchs schnell um eine weitere Biologin, einen Doktoranden und eine Verwaltungsmitarbeiterin, deren Heimatfachgebiet Arbeitswissenschaft von Prof. Peter Kurz schon den Weg zur späteren Zusammenlegung beider Fachgebiete zeigte: Nach mehreren Umzügen fanden sich beide Fachgebiete 2006 im Werner-Bischoff-Bau auf einem Flur zusammen, und nach dem altersbedingten Ausscheiden von Prof. Kurz übernahm das Fachgebiet Biomechatronik 2017 Teile der Aufgaben des Fachgebiets Arbeitswissenschaft. In dieser Zeit wuchs der Fachbereich von anfangs drei auf bis zu vierzehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an. Unterstützt wurde die Forschung zudem kontinuierlich durch externe Doktorandinnen und Doktoranden.

Laufen, Klettern, Greifen: Technik nach dem Vorbild der Natur

„Das größte Interesse der Öffentlichkeit und der Studieninteressierten fanden in den ersten zehn Jahren die Arbeiten zur Bionik, vorrangig biologisch inspirierte Roboter“, erinnert sich Prof. Witte. In Zusammenarbeit mit der EPFL Lausanne, Prof. Auke Jan Ijspeert, konnten darauf aufbauend Absolventen der TU Ilmenau als PhD-Studierende 2015 die schon seit Jenaer Zeiten von Prof. Witte angestrebte säugetierähnliche Laufmaschine als vierbeinige Roboterkatze, einem so genannten CHEETAH-Cub, realisieren. Derzeit entsteht in dieser Tradition unter Koordination von PD Dr.-Ing. habil. Emanuel Andrada in Kooperation mit Gentle Robotics eNandu, eine zweibeinige Laufmaschine nach dem Vorbild von Vögeln. „Solch schnelle und wendige kleine Maschinen können zum Beispiel bei Such- und Rettungseinsätzen nach Naturkatastrophen zur Erkundung dienen, aber auch im Alltag Pakete ausliefern“, so Prof. Witte. Gerade abgeschlossen hat das Fachgebiet ein Projekt zur Entwicklung eines biologisch inspirierten Greifers für Glas.

Individuelle Fähigkeiten im Alter bewahren oder wiederherstellen

Parallel dazu, aber von der Öffentlichkeit erst mit Abklingen des „Bionik-Hypes“ stärker wahrgenommen, wuchsen die Aktivitäten des Fachgebiets im Feld „Eng4Bio“, insbesondere der Entwicklung von Assistenzsystemen für Mobilitätseingeschränkte und ältere Menschen („Human Serving Systems“). Entwicklungen wie ein Virtual Reality-gestütztes Trainingssystem zur Prävention von muskulären Defiziten sollen helfen, individuelle Fähigkeiten bis in das hohe Alter zu bewahren, wiederherzustellen oder gar zu erweitern. Prof. Witte:

Hieraus ergaben sich auch die bis heute andauernde Forschung in der Audiologie, die Fortschreibung unserer Studien zur menschlichen Fortbewegung und Kooperationen mit Kliniken und Unternehmen zu medizinischen Fragestellungen.

Im Zuge der Zusammenarbeit mit dem Fachgebiet Arbeitswissenschaft wurde die Gebrauchstauglichkeit (Usability) ein stetig wachsendes Forschungsfeld, betreut vom heutigen Oberassistenten Dr.-Ing. Stefan Lutherdt. Aktuell entwickelt ein Team um Dipl.-Ing. Thomas Helbig ein im Rahmen eines BMF-Verbundprojekts mit drei Hochschulen und drei Unternehmen geschaffenes, modulares aktives Exoskelett der Oberextremität zur Prävention muskuloskelettaler Erkrankungen weiter, welches durch neuartige Nutzung von Elektro-Myographie (EMG)-Signalen den Wünschen der Nutzerinnen und Nutzer deutlich schneller folgen kann als bisherige Systeme.

Mit „Whegs“ im Wald unterwegs

In der anwendungsorientierten Forschung ist das Fachgebiet unter anderem in der Vermessung von Bäumen aktiv und entwickelt aktuell ein kosten- und handhabungsoptimiertes Gerät, mit dem das Wachstum des Stammumfangs gemessen und aufgezeichnet werden kann – ein wichtiger Indikator für die Vitalität eines Baumes. Prof. Witte:

Eine zeitlich hoch aufgelöste genaue Messung des Dickenwachstums eines Baumstamms kann im Gegensatz zu den klassischen manuellen Messmethoden besser Aufschluss über Effekte des Standortes, insbesondere die klimatische Situation ergeben. Damit möchten wir vor dem Hintergrund des klimawandelbedingt notwendigen Waldumbaus einen Beitrag zum Wald-Monitoring leisten.

Auch mit einem von Dipl.-Ing. Sebastian Köhring entwickelten geländegängigen Roboter plant das Fachgebiet, demnächst im Wald unterwegs zu sein, so Prof. Witte:

Die „Whegs“, mit denen man stufenlos zwischen dem Rollen auf Rädern (wheels) und dem Schreiten und Klettern auf Beinen (legs) wechseln kann, sind für den Einsatz im Forst ideal.

Dass sich die Biomechatronik vor allem durch ihre starke Interdisziplinarität auszeichnet, zeigt sich darin, dass sich das Fachgebiet in der Lehre in allen Fakultäten engagiert. Die größte Zielgruppe bilden Master-Studierende der Mechatronik mit dem Wahlschwerpunkt Biomechatronik und Studierende der Biomedizinischen Technik:

Wer das interdisziplinäre Arbeiten liebt und sich für Ingenieurwissenschaften UND Biologie wie Medizin begeistert, der kann sich an der TU Ilmenau schon im Studium in der Biomechatronik entfalten und in der Mechatronik oder in der Biomedizinischen Technik frühzeitig in vielfältigen Forschungsprojekten mitarbeiten.

Kontakt

Prof. Dr. med. (habil.) Hartmut Witte

Leiter Fachgebiet Biomechatronik